Der Hype scheint seinen heißesten Atem ausgehaucht zu haben: „Wolfsnachrichten“ schaffen es nicht mehr ganz bis in die
obersten Schlagzeilen. Und wenn Abschussquoten diskutiert, ein Wolf überfahren oder illegal geschossen wird oder eine Landesregierung nach der Entnahme eines auffälligen Individuums ruft,
scheint sich der Protest auf die grundsätzlich Unentwegten zu beschränken, die, denen es (zum Glück) nie langweilig wird, ihre Finger in diverse Wunden zu legen. Wenn das abflauendes
Interesse auf wachsender Gelassenheit beruhte, wäre das eine feine Sache. Gleichgültigkeit allerdings ist das Letzte, was Isegrim verdient hat. Dafür birgt er zu viele Geheimnisse. Ein
paar davon enthüllt Wolfsforscher Günther Bloch in unserem Interview.
Abschussquoten sind kontraproduktiv – Wölfe kann man „erziehen“
Herr Bloch, in Deutschland hat ja mancher wirklich Angst, dass es bald zu viele Wölfe geben könnte – so rasant wie sich
die Spezies im Augenblick ausbreitet. Lässt die Biologie „zu viele Wölfe“ überhaupt zu?
Nun ja, bei derartigen Befürchtungen frage ich mich, wo das Selbstbewusstsein der Menschen geblieben ist. Warum haben sie immer und vor allem Angst? Oder warum tun sie so, als müsse man
immer vor allem Angst haben? Wölfe sind – wie übrigens eine Menge anderer Spezies auch – Tiere, denen man achtsam begegnen darf. Auf die man Rücksicht nimmt und sich nicht durch die
Landschaft bewegt, als gehöre einem alles und als hätte nur man selbst das Recht, seine Kinder darin aufzuziehen. Nichts anderes tun Wölfe, auch und gerade, wenn sie sich „ausbreiten“.
Ihre Anzahl ist natürlichen Reglementierungen unterworfen – Krankheiten, Alter, Nahrungsangebot, Abwanderung – sie können sich gar nicht „unkontrolliert“ vermehren, weil die ganz
natürlichen Umweltbedingungen „kontrollierend“ auf sie wirken. In einer Wolfsfamilie leben immer nur so viele Wölfe, wie das Gebiet ernähren und beherbergen kann. Und jede Familie besetzt
ihr eigenes Territorium. Ist irgendwann alles besetzt und verteilt, werden es nicht noch mehr Wölfe, weil alle, die für sich keinen Platz finden, abwandern. Die laufen dann so lange, bis
sie irgendwo wieder auf freies Gebiet stoßen. Wölfe expandieren also in Territorien, die frei sind und sich als Lebensraum eignen. Aus Wolfssicht ist Deutschland ziemlich frei – deswegen
steigt die Zahl der Wölfe aktuell. Die Frage ist unterm Strich nicht, ob es irgendwann zu viele Wölfe gibt, sondern wo und inwieweit wir bereit sind, Wölfe zu dulden.
Wie groß werden Wolfsrudel denn für gewöhnlich?
Das ist eine schwierige Frage, weil es wie gesagt lebensraumabhängig ist, abhängig vom Revier, den klimatischen Bedingungen, dem Wetter, den vorhandenen Beutetieren. Manche Territorien
sind nicht zu 100 Prozent nutzbar, weil sie Hochgebirge integrieren, jahreszeitliche Besonderheiten, wie sehr kalte und lange Winter oder auch Überschwemmungsgebiete. Wölfen sind zudem
Beziehungen wichtig – sie tun sich selbst ein dauerhaftes Zusammenleben nicht an, wenn sie nicht miteinander können. Dennoch gilt: Es nützt dir nichts, wenn du dich magst, aber nichts zu
fressen hast. Man kann die Rudelgröße nicht an starren Zahlen festmachen. Was wir aber herausgefunden haben: interessanterweise orientieren sich junge A-Typen bevorzugt an erwachsenen
A-Typen und junge B-Typen an erwachsenen B-Typen. Die Typen beschreiben Persönlichkeitsmerkmale in der Ethologie – A-Typen sind forsche, draufgängerische, B-Typen eher abwartende,
vorsichtigere Individuen. Hier gilt das Motto „gleich und gleich gesellt sich gern“.
Besetzen die Mitglieder eines Rudels – einer Wolfsfamilie – bestimmte vordefinierte Rollen oder wählen sie ihre
„Aufgaben“ innerhalb der Gruppe selbst?
Das hängt von Alter und Erfahrung ab. Tendenziell jedoch eher letzteres. Man könnte die Frage nach Aufgaben auch als „Lebensabschnittsaufgaben“ bezeichnen, denn es macht in meinen
Verantwortungen einen großen Unterschied, ob ich ein älteres Geschwister, ein Onkel oder Elternteil oder was auch immer bin. An meiner derzeitigen Rolle kann sich aber ganz schnell etwas
ändern, wenn sich die Lebensumstände ändern, ich selbst oder andere Gruppenmitglieder von Krankheit oder Verletzung betroffen sind, Schicksalsschlägen ausgesetzt oder ähnliches. Es ist
dabei auch persönlichkeitsabhängig, wie der einzelne Wolf damit umgeht. Was den einen aus den Socken haut, kratzt einen anderen überhaupt nicht. Auch Wölfe werden von ihrer Biografie in
ihrem individuellen So-Sein „geprägt“. Mit irgendwelchen „Rudelstellungen“ hat die Rollenverteilung innerhalb einer Wolfsfamilie nichts zu tun, das ist großer, gefährlicher Humbug, der
vielen Hunden eine Menge Leid gebracht hat. Ich möchte mich an dieser Stelle nicht wieder im Detail darüber auslassen, aber mir ist unverständlich, wie Leute einfach ihre Hunde weggeben
können, nur weil irgendwer gesagt hat, dass der Hund nicht entsprechend seiner angeborenen Rolle gehalten werde. So ein Blödsinn – wir haben die abstruse Rudelstellungstheorie
wissenschaftlich nachgeprüft, weil ich die Theorie zunächst ganz spannend fand und dachte, na, vielleicht ist da was dran. Ich lerne ja auch gern dazu. Aber was dann herauskam, hat uns
die Haare zu Berge stehen lassen, und ich persönlich hatte einen dieser Momente, wo ich mich frage, wo der Tierschutz ist, wenn man ihn braucht. Wer mehr darüber lesen möchte, kann das
zum Beispiel bei
Wikipedia tun.
Wovon ist abhängig, welche Lebensabschnittsaufgabe ein Wolf für sich wählt?
Von den Lieblingsbeschäftigungen und der individuellen Persönlichkeit. Und den eigenen Erfahrungen. Es kann sein, dass ein Wolf „feige“ erscheint, tatsächlich aber ein Draufgänger ist,
der nur gelernt hat, dass man auf die Fresse kriegen kann, wenn man sich überschätzt. In Wolfsfamilien gibt es eine Menge Aufgaben – melden, wachen, Babysitting, Gefahrenabwehr,
Nahrungsbeschaffung – hier haben wir aber leider noch keine quantitativen Mengen an Vergleichswerten, wir wissen noch viel zu wenig, als dass wir präzise sagen könnten „soundso entsteht
die Rollenverteilung in einem Wolfsrudel“. Witzig ist, dass Wolfsnachwuchs immer den Elternteil kopiert, der die Strategien lebt, die den eigenen Talenten und Vorlieben entsprechen.
Lauffreudige Mütter zum Beispiel werden am liebsten von lauffreudigen Söhnen und Töchtern kopiert. „Bequemliche“ Elternteile tendenziös eher von den Jungen, die ebenfalls „bequemlich“
sind. Unterm Strich ist das aber auch echt schlau, denn damit nehmen sich Wolfsjunge ihr individuelles Beispiel an dem, der sich seine Bedürfnisse auf eine Art und Weise erfüllt, die auch
der eigenen Natur entspricht. „Folge deinem Herzen“ auf wölfisch, könnte man fast sagen.
Streben alle Wölfe grundsätzlich nach „Leitungsfunktion“, also der noch immer viel beschworenen „Rudelführung“?
Ich würde nicht sagen, dass zum Beispiel extrem unterwürfige Individuen danach „streben“. Aber wenn ein solcher Wolf loszieht und sich einen Paarungspartner sucht, wird auch er zum
Leittier – einfach, indem er oder sie Elterntier wird. Mütter und Väter übernehmen Verantwortung und sorgen für andere, beschützten und verteidigen sie, zeigen ihnen, wo Futter und Wasser
zu finden sind und gute Verstecke. Ein Leittier lehrt, indem es Strategien vorlebt und Rituale initiiert. Es verlangt aber nichts dafür. Jedes Jungtier kann selbst entscheiden, ob es
folgen und die jeweilige Strategie übernehmen will oder ob es die Dinge lieber anders versucht – Stichwort Abwanderung. In dieser Komplexität besteht das „ein Leittier sein“.
Wölfe gelten ja als sehr anpassungsfähig – passt sich wirklich jeder Wolf an das Umfeld an, in das er hineingeboren
wird?
Was wir wissen: Wölfe besitzen die Fähigkeit, an geographischen Besonderheiten – der Form von Tälern etwa, dem Vorhandensein von Vegetation und Deckung, Wasser und ähnlichem – geeignete
„Wolfsgebiete“ zu erkennen. Sie erkennen auch den Nutzen von Infrastruktur. Sie müssen nicht jedesmal von der Pieke auf lernen, auf Eisenbahngleisen oder Waldwegen, Straßen etc. zu gehen.
Sie sehen dergleichen und wissen unmittelbar wozu es gut ist. Sie wissen aber auch, dass Orte, die „schön“ sind, besetzt sein können. Und allermeistens laufen nach Territorium suchende
Wölfe weiter, wenn sie auf Konkurrenz stoßen. Natürlich gibt es auch territoriale Streitigkeiten. Aber Wölfe sind keine martialischen „Krieger“, auch wenn sie mitunter als solche
dargestellt werden. Krieg führen kann auch schiefgehen. Da sind Wölfe deutlich schlauer als Menschen.
Dann sehen Wölfe Menschen von sich aus nicht unbedingt als Konkurrenz an, oder?
Vielleicht ist es für Wölfe selbstverständlicher und natürlicher, mit anderen Spezies zu koexistieren, als für uns Menschen. Wölfe besitzen die Fähigkeit, sich mit Konkurrenten zu
arrangieren. Menschen neigen dazu, Konkurrenz zu vernichten. Der Witz ist, dass Jagddruck durchaus dazu führen kann, dass sich Wölfe zurückziehen – sie wissen aber sehr genau, dass es
dort am sichersten ist, wo die Menschen wohnen. In Stadtrandgebieten und Dörfern schießt keiner.
Wölfe gehören ja auch zu den Spezies, die Kulturen etablieren und Traditionen weitergeben – Stichwort
„Überlebensstrategien vorleben“. Könnte man dieses Wissen nicht nutzen, um sie vielleicht ein Stück weit in unserem Sinne zu „erziehen“?
Na klar. Wenngleich Kultur nicht gleich Tradition ist. Man kann Wölfen „beibringen“, dass Nutztiere etwa keine adäquate Beute sind. Mit ganz grundsätzlichen Herdenschutzmaßnahmen, die
durch individuelle Strategien ergänzt werden. Wölfe sind schlau, es kostet sie ein Lächeln, vermeintliche Patentrezepte „von der Stange“ zu unterwandern und auszuhebeln. Aber wenn man
selber clever ist, kann man es schaffen, ihnen eine Idee voraus zu sein. Wenn wir Wölfen ermöglichen, zu lernen, was wir wollen, dass sie lernen – zum Beispiel Schafe, Pferde oder Kühe
links liegen zu lassen, wenn sie auf Jagd gehen – und wenn wir ihnen dann erlauben, das Gelernte an ihre Nachkommen weiterzugeben – unter anderem, indem wir Wölfe nicht bejagen – haben
wir ziemlich gute Karten, wirklich nachhaltig mit Wölfen leben zu lernen. Ich habe in der Slowakei Wolfsrudel beobachtet, die in der Nähe von Dörfern siedelten. Ihre Jagdgründe hatten sie
in den Wäldern. Zwischen Dorf und Wald befanden sich Kuhherden. Was hatten wir für einen Spaß, die Wölfe jeden Tag mitten durch Kuhherden laufen zu sehen, um in den Wäldern jagen zu
gehen. Sie hätten tausende Gelegenheiten gehabt, Kühe zu töten. Haben sie aber nicht gemacht. Weil sie von irgendwelchen Wölfen lange vor ihnen eine Tradition übernommen hatten, genau das
lieber nicht zu tun. Unterm Strich ist es genau wie bei uns: manche Tiere essen wir, andere setzen wir auf unsere Sofas. Auch Wölfe fressen nicht alles, was ihnen vor die Schnauze kommt.
Sie plädieren also dafür, Wölfe nicht zu jagen, damit sich Jungtiere an Alttieren quasi „vom Menschen erwünschtes
Verhalten“ abschauen können?
Genau. Das ist zwar nicht der einzige Grund, aber ein wichtiger. Zumal Wölfe, die mit einer adäquaten Überlebensstrategie, einem „Plan“, von zu Hause abwandern, diese Strategie mitnehmen.
Lassen sich abwandernde Wölfe in freien Territorien rund um das Elternrevier und darüber hinaus nieder, hat man nach drei, vier Generationen eine kleine Dynastie in dem betreffenden
Gebiet. Es lohnt sich, diese Dynastien zu schützen, weil in ihnen die Traditionen weitergereicht werden, es wird eine bestimmte Kultur gelebt, und aus der brechen Wölfe nicht mehr einfach
so aus. Zumindest, wenn man als Mensch ein Auge auf die Rahmenbedingungen behält.
Da brauchen wir aber ein paar Wolfsgenerationen lang ziemlich gute Nerven …
Na und? Aber ich weiß, was Sie meinen – viele Menschen haben diese guten Nerven nicht oder wollen sie nicht haben.
Was ist mit sogenannten Problemwölfen?
Echte Problemwölfe sind Ausnahmen. Natürlich muss man hier eine Grenze ziehen und schauen, ab wann ein Verhalten tatsächlich nicht mehr tolerierbar ist. Bislang hatte Deutschland aber
keinen einzigen Problemwolf. Deutschland hat nur das Problem, dass es den Wolf zum Problem hochstilisiert, wie wir gerade erst wieder gesehen haben in dem Fall der Touristin, die in
Griechenland tot aufgefunden wurde:
„Urlauberin von Wölfen zerfleischt“,
“Wie starb Celia Lois Hollingworth?“. Ich bin der letzte, der sagt,
Wölfe müssten überall geduldet werden – es gibt Orte, die wir Menschen für uns allein beanspruchen dürfen. Wölfe müssen nicht auf Deichen hausen oder im Berliner Tiergarten. Aber nur,
weil mal einer zufällig unseren Weg kreuzt oder am Gartenzaun vorbeiläuft, muss noch lange keine Abschussquote her. Im Gegenteil: Man müsste Jägern die Jagd auf Wölfe strikt verbieten,
weil planloses Abballern völlig kontraproduktiv ist. Wir erinnern uns: Wolfseltern sind diejenigen, die den Jungen Weisheiten vorleben, was wo wie zu tun ist. Schiesst man sie ab, bleiben
konfuse Jungtiere zurück, die nicht richtig wissen, wie das reale Leben funktioniert. Mit Abschussquoten nehmen wir uns und dem Wolf – wie wir gesehen haben – jede Chance, eine
vernünftige Koexistenz des gelassenen Miteinanders zu entwickeln. Wer die Weisheit aus einer Wolfsfamilie herausschießt, zwingt die Hinterbliebenen, sich Beute zu erschließen, die der
Weisheit nicht bedarf. Wer nach Abschussquoten für Wölfe ruft, muss sich im Klaren darüber sein, wie sehr er Nutztiere damit gefährdet. Wenn Sie mich fragen, beweist der Wolf durch seine
Rückkehr nach Deutschland eine geradezu unglaubliche Anpassungsleistung, vor der ich nur den Hut ziehen kann. Und allein aufgrund der Tatsache, dass der Wolf es geschafft hat, in
Deutschland wieder sesshaft zu werden, hat er es aus meiner Sicht verdient, in Ruhe gelassen zu werden. Damit er reproduzieren und sich auch kulturell weiterentwickeln kann. Wenn wir
nicht über unseren Schatten springen und ihm das ermöglichen, machen wir es uns nur selber schwer. Und wir tragen auch schwerer an den Konsequenzen, die unsere Entscheidungen und unser
Handeln auf lange Sicht haben.